Bild oben: Strandleben an der Côte d'Azur.    © Uwe Niemeier

Französisches Tagebuch 2

Von Uwe Niemeier


Gartenidylle in Grimaud. © Uwe Niemeier
Gartenidylle in Grimaud. © Uwe Niemeier

Von Verdi, Caruso und schwergewichtigen Titanentöchtern


Es war nur ein kleiner, winziger Moment. Ein Moment, auf den ich einfach nicht vorbereitet war. Ich hatte wie üblich meinen Tag eingeteilt, zwischen den Stunden des Müßiggangs ein paar Minuten für weniger wichtige Erledigungen eingeplant und ansonsten - ach, ich hatte ja keine Ahnung!

 

Wir hatten die Flügeltüren zum Garten weit geöffnet und die schweren Vorhänge bewegten sich gravitätisch im Takt des Windes. Aus unserer Musicbox kratzte die mit Patina belegte Stimme von Enrico Caruso. La donna e mobile. Rigoletto, Verdi! Die berühmte Canzone des Herzogs von Mantua. Das Orchester schrammelte einen leichten 3/8 Takt und trug mich wie auf Wattewölkchen voran. Ich wollte zum Kühlschrank.

 

Vom Nachbargrundstück mit den hohen Pinien, die uns seit zwei Jahren unverschämterweise den Blick auf die Burg von Grimaud stahlen, ploppten dumpf die Wasserspritzer am Pool, glucksten hell die Kinderkehlen auf der Wiese. Eine Idylle.

 

Und dann, auf einmal. Da war es plötzlich. Dieses Fluidum. Kam förmlich über mich. Zuerst spürte ich diese unbeschreibliche Aura, diesen zarten Duft. Frisch und tänzelnd wie die Morgenbrise einer Göttin. Der Lufthauch trug mich weg in die Weite der üppigen Obstfelder unter unserem französischen Ferienhaus. Ich sah wundervolle Landschaften vor meinem Auge, hörte das Flüstern der Blätter, die sich leicht im Wind wiegten. Sah vor mir den Rosé vom Vorabend, wie er im Licht der untergehenden Sonne lachsrot unsere Gläser füllte. 

Landschaft bei Grimaud. © Uwe Niemeier
Landschaft bei Grimaud. © Uwe Niemeier
Quelle:  Free-Photos auf Pixabay
Quelle: Free-Photos auf Pixabay

Moment. Sagte ich - Brise? Tatsächlich? Ojeh! Nur im ersten, flüchtigen Augenblick. Das, was mich im ersten Moment anwedelte, entwickelte sich plötzlich zu einer schwergewichtigen Titanentochter aus der griechischen Mythologie. Sie tänzelte auch nicht. Nein, sie marschierte. Sie wedelte auch nicht, sie stürmte. Und stampfte jetzt direkt auf mich zu. Ich konnte nicht entkommen.

 

Die Weite der üppigen Obstfelder, die ich vor mir gesehen hatte, veränderte ihr Gesicht und wandelte sich in eine mit dunklen Gestalten verseuchte Wagner-Bühne. Das Flüstern der Blätter - es wechselte in das aufmüpfiges Brüllen eines scharf durch die Hecke blasenden Mistrals. Was war geschehen? 

 

Eine Stimme wie aus einer anderen Welt riss mich aus meiner Dunstwolke. Nicht Caruso. Viel heller. Freundlicher, doch durchaus bestimmt. "Liebling? Bist du am Kühlschrank? Es riecht so streng. Kannst du bitte den französischen Weichkäse bringen. Den kann man sowieso nur draußen essen."

 

Ich taumelte mit dem ausdünstenden Käse um den Küchenblock herum und schlich mich ins Freie, raus zum Frühstückstisch. Ein frecher Eichelhäher hüpfte am hinteren Beckenrand aufgeregt hin und her. Vorsichtig lugte er zu mir herüber.  Nie wieder, schwor ich, würde ich diesen französischen Weichkäse kaufen. Nie wieder, versprochen.