Adler und Löwe

(*Die Handlung der Geschichte sowie die Personen und ihre Namen sind frei erfunden.)

Eine Kurzgeschichte von Uwe Niemeier, Teil 1

 

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Die Karawane

Vor Zorn ballte Nikaos seine Fäuste. Mit großer Ungeduld und ebenso großen Hoffnungen hatte er seit Tagen auf dem höchsten Punkt der Burgmauer ausgeharrt, trockenen Wind und heiße Sonne ertragen und mit wachen Augen Ausschau gehalten. Wie ein Adler. Ständig auf der Suche. Nach einer kleinen, sich langsam in der Ferne bewegenden Karawane, die sich irgendwo dahinten in der Ebene zwischen dem Meer und dem heimatlichen Mykene nähern musste.

Sein kurzes blaues Gewand mit den königlichen Ornamenten an Kragen und Ärmelsaum klebte ihm am Rücken. Seine langen schwarzen Haare, die er mit einer klebrigen Paste aus Harz und Olivenöl zu fingerdicken Strähnen geformt hatte, schützten seinen Nacken ein wenig vor der Sonne. Er stopfte sich ein paar saftige Feigen in den Mund und nahm einen großen Schluck aus einer mit Wasser gefüllten Bügelkanne zu seinen Füßen. Dabei tropften Wasserperlen auf seine Goldkette am Hals und ließen im Sonnenlicht zwei purpurne Achatperlen glänzen. Erneut blickt der junge Königssohn jetzt vom Burgberg hinaus in die Ebene. Es war Spätsommer geworden, und diese nichtsnutzigen Berater seines Vaters, des großen Wanax, waren längst überfällig, überlegte Nikaos. Denn die Zeit drängte.

Blick von Mykene in die Ebene mit Richtung zum Argolischen Golf. © Uwe Niemeier
Blick von Mykene in die Ebene mit Richtung zum Argolischen Golf. © Uwe Niemeier

Am Megaron von Mykene.  © Uwe Niemeier
Am Megaron von Mykene. © Uwe Niemeier

Schlechte Nachrichten erreichten fast täglich den mykenischen Palast im Land der Achijawa, wie sich die Stämme auf dem Peloponnes seit grauer Vorzeit nannten. Seefahrer der drei Meere um den Peloponnes herum legten nach oft waghalsiger Flucht vor Piraten in der Bucht von Argolis an und suchten Schutz hinter den dicken Mauern von Tiryns direkt am Golf oder etwas weiter im Landesinneren in Mykene, der wehrhaften Stadt der Väter und Ahnen von Nikaos. Die Schiffsbesatzungen berichteten von Überfällen auf See, vom Morden und Brandschatzen an der messenischen Küste im Westen des Peloponnes, von der Verschleppung von Kindern im dicht besiedelten Elis im Nordwesten und von der Vergewaltigung der Frauen in besiegten Städten und Dörfern am Lakonischen Golf im Süden. Die Angst vor diesen Piraten war allgegenwärtig. Niemand wusste, woher sie kamen. Niemand wusste, wann sie kamen. Ihre Segel tauchten mit dem ersten Morgenwind an den Küsten auf.

Schon im Frühsommer, als die große Göttin Potnia wie üblich die guten Winde schickte, hatte der Wanax hohe Beamte seiner Palastverwaltung auf eine weite und gefährliche Mission über das große Meer nach Ägypten geschickt. Zum Anführer hatte er den Lawagetas bestimmt. Doch der Heerführer der mykenischen Truppen hatte erfolgreich darauf bestanden, die Stätte der Ahnen selbst zu verteidigen, wenn der grausame Feind vor den Mauern stehen würde. Und dass er käme, daran zweifelte niemand. Nur wann? Also bedrängte Nikaos seinen Vater, er möge ihn anstelle des Heerführers zum großen Ramses schicken. Doch der König willigte nicht ein. Zu jung sei er noch, mit seinen 16 Jahren. So schickte der König den höchsten Beamten seines Palastes mit dem Titel eines Koreter. Und Nikaos musste sich fügen. Seine Zeit, sagte er sich, würde noch kommen. 

Vom Pharao hinter dem großen Meer erhofften sich die Mykener Hilfe in ärgster Not. Denn die Städte an den Küsten der Achijawa brannten, wenn die dumpf dröhnenden Signalhörner der Piraten an den Ufern zu hören waren. Die Mauern der Paläste auf dem Peloponnes brachen, wenn sich die fremden Horden wie gewaltige Wellenstürze gegen Türme und Tore warfen und alles niederstreckten, was sich ihnen in den Weg stellte. Zu unerfahren und unbeweglich waren die eigenen Truppen gegen die neue Kriegsführung der Piraten mit ihren langen, harten Schwertern, schnellen Einheiten und gut gelenkten Bögen. Das bisher verschonte Mykene aber wollte nicht warten, bis der übermächtige Feind auch vor den eigenen Toren stand und suchte Verbündete. Ägyptische Eliteeinheiten, so sollte der Koreter im fernen Land am Nil aushandeln, könnten die Mykener gegen Tribut entlasten und den Feind vertreiben.

Der junge Königssohn ballte erneut die Fäuste. Er spürte Zorn. Niemand wusste, woher diese Piraten kamen und wohin sie gingen. Auch die großzügigen Stieropfer der Mykener für die große Göttin hatten bisher nicht geholfen. Hatte Potnia sie etwa verlassen? Selbst die Kupfer- und Zinn-Lieferungen aus Ugarit und anderen östlichen Handelshäfen der Ägäis waren zuletzt ausgeblieben, ohne Nachricht. Schon seit zwei Monaten hatte kein Schiff mehr von dort im Hafen des Argolischen Golfes angelegt, kein Ochsengespann war seit dem Hochsommer mit den für die Waffenproduktion so wichtigen Rohstoffen nach Mykene gerollt. Und was hatten die Weihegaben

 

Der Weg in die Unterstadt. © Uwe Niemeier
Der Weg in die Unterstadt. © Uwe Niemeier

für die Göttinnen Diwia und Posidaeia genutzt? Gerste, Feigen und Honig hatte Nikaos` Mutter als oberste Priesterin im innersten Heiligtum für sie geopfert und die Ahnen um Hilfe und Rat angefleht. Doch die Vorväter in den großen Grabkammern am Fuße der Burg hatten nicht gesprochen. Sie waren stumm geblieben. Und die Schiffe der fremden Seevölker blieben eine bedrückende Gefahr. 

Endlich. Jetzt. Nikaos lehnte sich waghalsig über die Mauerzinne und kniff die Augen zusammen. Das mussten sie sein. Nikaos konnte in der Ebene deutlich den in der Sonne blinkende Helm des obersten Beamten der Ägypten-Mission ausmachen, des Koreter.  


Die Zyklopenmauer von Mykene. © Uwe Niemeier
Die Zyklopenmauer von Mykene. © Uwe Niemeier

Je konzentrierter Nikaos schaute, desto mehr glaubte er, die kleine Gruppe der berittenen Hofbeamten zu erkennen, die einen Tross von drei kleinen Wagen hinter sich herzogen. Schon bald würde die Delegation die ersten Hütten der quirligen Unterstadt von Mykene erreichen.

Der Königssohn eilte mit kurzen Schritten die steilen Treppen der Mauer hinunter und lief durch die Gassen des unterhalb des Palastes gebauten Viertels der mykenischen Ritter. Gleich auf der ersten Rampe, die nach oben zum Palasthügel und nach unten zum zinnenbewehrten Löwentor führte, wartete ein Stallbursche mit einem prächtigen Rappen auf den Königssohn. Mit einem beherzten Sprung saß Nikaos auf dem Rücken des Tieres und preschte auch schon durchs geöffnete Tor ins Freie. „Sie kommen“, rief er im Vorbeireiten der Wache zu, die auf ihre spitzen Speere gestützt in der Sonne döste. „Sie kommen! Sagt dem Wanax, sie kommen!“

Er trieb sein Ross zur Eile und ließ schnell die gewaltige Ringmauer hinter sich, die sich mit ihren riesigen Blöcken Stein auf Stein wie eine Trutzburg in den Himmel stemmte. Nikaos galoppierte durch die engen Straßen der Unterstadt und konnte die kleine Reisegruppe noch vor den äußeren Hütten abgefangen. 

„Potnia in Ehren, sei gegrüßt Koreter“, sprach Nikaos. „Was bringst Du an Kunde aus dem fernen Ägypten?“ Doch der hohe Palastbeamte, der sich wie alle Würdenträger nur über den Titel anreden ließ, blieb stumm.


Hoher Koreter, sag schon!“ Ungeduldig führte Nikaos seinen Rappen nach links und stellte ihn quer in den staubigen Weg, um die Delegation aufzuhalten. Doch auch weiterhin blickte er nur in düstere Gesichter. Den Königssohn durchfuhr ein schrecklicher Gedanke: Sah er stumme Zeugen einer misslungenen Mission?

„Ich bin nur dem Wanax eine Antwort schuldig“, antwortete jetzt der Koreter. Zwar unterwürfig, aber doch mit großer Bestimmtheit in der Stimme. „Nur ihm, mein Königssohn, werde ich Bericht erstatten. So ist es mir befohlen.“

Nikaos warf beleidigt sein Pferd herum und machte den Weg frei. Seine Macht war noch begrenzt. Noch. Dabei hatte er sich doch schon bei den Jagdausflügen seines Vaters als Mann bewiesen und das Handwerk eines Kriegers mit Schwert, Schild und Spieß beim Lawagetas persönlich gelernt. Und den schnellen Streitwagen lenkte er wie kein anderer. Er fühlte sich bereit.

 

Bis zum Empfang der Delegation im Megaron, dem Thronsaal auf dem Burgberg, würde noch Zeit bleiben. Der Vater, überlegte er, würde ihn jetzt nicht empfangen. Aber seine Mutter, die im Kultbezirk des Palastes gerade die große Herrin Potnia ehrte, wollte er aufsuchen. Und außerdem könnte er dort diese junge Priesterin Arexadara treffen, um die er seit Wochen ohne Wissen seines Vaters warb. Nikaos ließ sein Pferd trotzig angaloppieren. Staub wirbelte auf, sein Rappen hinterließ eine graubraune Wolke auf dem trockenen Pfad zur Unterstadt. Schon mit dem Rücken zur Karawane hörte er den so schweigsamen Koreter husten und glaubte, Sprachfetzen eines alten mykenischen Schimpfwortes zu hören. Mit einem breiten Grienen im Gesicht ritt Nikaos durch die Unterstadt zurück zum Palast.

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Oben: Achatsiegel mit Kampfdarstellung sog. „Combat Agate“, 15. Jh. v. Chr., Pylos, Grabfund, Archäologisches Museum Messeniens, Kalamata,

© Hellenic Ministry of Culture and Sports / Badisches Landesmuseum, Foto: Gaul