Französisches Tagebuch 1


Von Uwe Niemeier

Straßenlampe in Grimaud als Mottenfalle für Geckos. © Uwe Niemeier
Straßenlampe in Grimaud als Mottenfalle für Geckos. © Uwe Niemeier


Rufer in der Nacht

 

Es war Sommer, später Nachmittag. Die Hitze hatte sich in riesigen trockenen Luftblasen geballt und überfiel ohne Vorwarnung jeden, der einen Fuß zu weit ins Freie setzte. Der leichte Wind im Garten schob sich unter die Stofffalten meines zerknitterten Hemdes und brachte mir die Ahnung einer Erfrischung. Vor mir lag eine flache grüne Ebene, die sich zwischen dem kleinen Bergdorf Grimaud und den Hügeln vor Cogolin nach Westen in die Weinberge zog und dort irgendwo verlor. Darüber flirrte die Luft. Und irgendwo zirpten Armeen von Zikaden. Der Süden. So müsste es bleiben, dachte ich. Für immer.

 

Die Flügeltüren zum Garten standen weit offen und die luftigen Vorhänge bewegten sich träge im Sommerwind. Eine nahe Melodie webte ein warmes Gespinst an Tönen, und leise klang es in meinen Ohren.

 

Sur la plage abandonnée / Coquillage et crustacés . . .

 

Brigitte Bardot hauchte ihr “La Madrague“.

 

Die Bardot, dachte ich, aha, singen konnte sie also auch. Sie sang mit sanfter Stimme über einen einsamen Strand, über Muscheln und Schalentiere, die den Verlust des Sommers beklagen. Ein leichtes, gefühlvolles Abschiedslied, das wir im CD-Player vorfanden. Vom Vorgänger in unserem Ferienhaus. Und während ich mich in die weite Ebene träumte, sah ich uns in dem kleinen Fischmarkt unseres Vertrauens sitzen, unten am Golf. Ein Glas kalten Rosé in der Hand. Im Mund zergeht gerade die erste . . .

 

Plötzlich. Randale. Am Grill! Die Stille war dahin, untergegangen im Gepolter seitlich der Terrasse. Mit schnellen Schritten war ich an der Hauskante und lugte vorsichtig herum, in die Ecke mit dem Grill, mit der Steinmauer im Rücken und dem Holzverschlag für . . . na, für was auch immer. Da saß er!

 

Was für ein Prachtstück! Eine große, smaragdgrün schimmernde Eidechse hockte wie Rambo breitbeinig auf dem Grillrost, lugte zu mir herüber und bewegte sich nicht einen Millimeter. Ein Gemälde. Wollte die Eidechse mir etwas mitteilen? Etwa: Das hier ist mein Revier! Ja, dann sag´ doch was.

 

Noch bevor wir nähere Konversation betreiben konnten, holten wir rasch unseren Fotoapparat. Und Wawa, wie wir unseren hübschen Mitbewohner tauften (Max Kruse und Urmel lassen grüßen), hielt still. Eine Weile jedenfalls. Im Moment eine Ewigkeit. In der Erinnerung ein Wimpernschlag. Dann zuckte der grüne Körper kurz. Ein Blick zur Seite. Kein Gruß. Der zappelnde Schwanz war das Letzte, was wir sahen. Weg war er. So, als hätte es Wawa nie gegeben.

 

Wir waren . . . irgendwie . . .  gerührt. Doch Wawa, so sehr wir es auch wünschten, tauchte nie wieder auf. Er zeigte sich einfach nicht mehr in seinem schillernden Smaragd-Kleid, blieb spurlos verschwunden. Wir fanden dieses Verhalten ein wenig unhöflich, denn bis zum Schluss unseres Ferienaufenthaltes (und bei allen weiteren) verzichteten wir – natürlich! – auf jedes Grillvergnügen in seinem Revier.

 

Wir aber fanden noch am Abend einen Ersatz für Wawa. Keinesfalls ebenbürtig in Größe und Erhabenheit, dafür nicht so scheu. Lustig anzusehende Mauergeckos überraschten uns mit ihrem Besuch, als die Terrassenbeleuchtung die spät hereinbrechende Dunkelheit in Szene setzte. Die Geckos waren plötzlich da. Sie klebten an dem vom Tag aufgeheizten Wandputz über unserer Lounge-Gruppe und ruhten eine gefühlte Ewigkeit in einer Starre, die nichts anderes ist als eine raffinierter Lauerpose. Dann, plötzlich, werden sie unglaublich flink, und die Wand wird zum Jagdrevier. Schnappschnapp. Hier mal eine Motte, da eine Spinne, und dort – bitteschön – eine träge Mücke. Was für lustige Kerlchen!

 

Es war spät geworden. Wir harrten noch aus und bespitzelten die Nacht. In der Nähe quäkte ein Frosch seine Einsamkeit heraus. In der Ferne tönte – ein Echolot. Ein Echolot? Hatten wir uns verhört? Wir schwiegen, lauschten, rührten uns nicht. Wie die Geckos.

 

Jetzt wieder, klar zu hören, von oben, vom Hügel mit der Burg. Natürlich, das Sonar eines U-Bootes! Aber dort oben? Wir verwarfen diese These. Wer aber war dieser Rufer in der Nacht?

 

Aus dem Maurenmassiv, das hinter uns in sanften Wellen aufstieg, kroch eine rabenschwarze Dunkelheit heraus. Wir spürten schon ein wenig die Feuchte, die sich morgens im Freien auf Tischen und Stühlen, auf Pflanzen und im Gras greifen ließ. Wir packten zusammen, versperrten den Doppelladen unseres Schlafzimmers und öffneten weit die innere Tür. Dann war er wieder da, dieser Rufer der Nacht. Und schon im Halbschlaf erinnerte ich mich plötzlich: Es ist eine kleine Eule. Die Franzosen nennen sie zärtlich Petit Duc. Eine Zwergohreule. Ein Rufer in der Nacht.

 

Der leichte Wind im Garten schob sich zwischen die Lamellen unseres Schafzimmers und brachte mir die Ahnung einer Erfrischung. Vor meinen geschlossenen Augen breitete sich eine flache grüne Ebene aus, zwischen dem kleinen Bergdorf Grimaud und den Hügeln vor Cogolin. So ist der Süden. So müsste es bleiben, dachte ich. Für immer. Dann schlief ich ein.