Athen hat keinen Zauber! Und wenn das antike Dorf am Fuß der Akropolis einst eine Wiege war, warum und wann war der frühe Aufbruch in eine neue Gesellschaft auf der Strecke geblieben?
Zerrieben im blutigen Gezänk der Hellenen selbst, oder unter den Schwertern Roms? Unter Byzanz? Unter Kreuzfahrern, Franken, Venezianern, Genuesen, Osmanen, unter Franzosen, Engländern, Deutschen? Nur wenige hinterließen ruhmreiche Spuren. Die meisten schlugen Wunden, die teils bis heute bluten. Bestenfalls blieben Narben.
Mein erster Eindruck - enttäuschend. Das war unfair von mir. Ich sah nur mit den Augen, nicht mit dem Herzen. Denn von der Akropolis aus wirkte die Stadt wie ein weißes Häusermeer, ohne Gesicht, einem Moloch gleich, mit einem milchigen Schleier hoch über den Dächern mit ihrem hässlichen Antennenwald. Nur selten fand das Auge einen architektonischen Halt, an dem es Gefallen finden könnte. Erst nach diesem frühen Aufenthalt in den neunziger Jahren habe ich mich mit Athen wirklich beschäftigt. Vielleicht, weil ich meiner Enttäuschung nicht trauen wollte?
Heute - und einige Reisen später - sehe ich Athen anders. Die Gastfreundlichkeit der Menschen wärmt jeden kalten Raum. In den Ruinen der Antike hallen die Stimmen der Menschen wieder, die dort gefeiert, gelebt, geweint haben und vielleicht unter den Schwertern ihrer Feinde gestorben sind. In der Agora höre ich die Philosophen, wie sie sich in Rage reden. Und im Akropolismuseum tauche ich ein in ein antikes Wunderland, das mir wie ein Portal in eine andere, fremde Zeit erscheint.
Jetzt sehe ich mehr, mit dem Herzen.
Von Uwe Niemeier
Ja, ich wollte immer schon nach Delphi reisen. Dort oben, vor der steilen Kulisse der Parnass-Felsen und weit über dem Tal, in dem einst der antike Fluss Pleistos seinen Weg in den Korinthischen Golf fand, sieht die Welt anders aus.
Alles wollte ich glauben, dort oben. Pythia auf dem Schemel, die kryptischen Orakelsprüche, die Adler des Zeus, die in Delphi den Nabel der Welt festsetzten wie mit einer auf der Landkarte versenkten Stecknadel.
Da gab es Laisos, den König von Theben. Er holte sich dort einen gut gemeinten Rat ab - und wurde dennoch von seinem Sohn Ödipus getötet. Da gab es Krösus, einen Lydier-König, der letzte übrigens. Er verrannte sich nach einem missgedeuteten Orakelspruch in einen Krieg - und ging unter. Dann kam der junge und stürmische Alexander. Er zog die unwillige Pythia an den Haaren in den Tempel hinein. Es ging ihm nicht schnell genug mit der Weissagung, denn er hatte ja noch ein Weltreich zu erobern.
Alles wollte ich glauben. Es trennte mich nur noch die heilige Prozessionsstraße vom fernen Ziel meiner frühen Jugendträume. Und mit jedem Schritt den Hang empor zeigte sich die Größe der griechischen Geschichte genauso wie die Tragödie ihrer blutigen Zerwürfnisse. Ich lernte dazu: über den Stolz der Griechen-Städte, die sich mit Prunkbauten zu übertrumpften versuchten; über das Können der Erbauer, die sich grandiose Kulissen zu eigen machten; über den Patriotismus der Hellenen, die sich mit der Perser-Siegessäule erstmals eine gemeinsame Identität stifteten.
Am Tempel soll der Spruch "Erkenne dich selbst" über dem Portal geprangt haben. Das Orakel - ein Ursprung demokratischer Gedanken? Die Deutungen und somit die Priester hatten Einfluss auf die panhellenistische Einigung und die Kolonisierung des Mittelmeerraumes. Und Apollon ließ über seine Seherin solche Werte wie Toleranz, Barmherzigkeit und Rechtsstaatlichkeit verkünden.
Eine Art Camelot der Antike also? Ein goldenes Jerusalem der himmlischen Träume? Oder einfach nur ein Priester-Syndikat? Vielleicht. Irgendetwas. Von alldem.
Im Frühjahr muss der Pilger nach Delphi reisen. Dann erwacht Apollon in seinem Winterdomizil und kehrt zurück in sein Heiligtum. In den Bergen. In Delphi. Und Pythia, seine Stimme? Vermutlich längst im Elysion. Wer wird sie holen von den rosengeschmückten Wiesen?
Peloponnes. Wie schreibt man das eigentlich? Pelops, mythologischer Sohn des Königs Tantalos in Kleinasien, hatte es nicht leicht in seinem Leben: Der Vater schnitt ihn in Stücke und warf das Gehäckselte den Göttern als Speise vor. Kann ja mal passieren.
Aber die Sippe auf dem Olymp ließ sich nicht hereinlegen. Nur Demeter, ausgerechnet auch noch eine Fruchtbarkeitsgöttin, war zu dumm und aß eine Schulter. "Was tun?", sprach Zeus. Nun, er ließ den armen Pelops im Kochtopf wieder zusammenschmurgeln und gebar - sozusagen als Kochtopfgeburt - den schönsten Jüngling weit und breit. Nur auf der Schulter blieb ihm ein weißes Mal, wegen dieser Demeter. Die hatte schon wieder andere Probleme an der Backe: Der Unterweltgott Hades hatte nämlich ihr Töchterlein Persephone entführt - gegen deren Willen.
Mit miesen Schiebereien konnte sich dieser Pelops die Hand der Königstochter in Elis ergaunern, womit wir endlich auf dem Peloponnes angekommen sind. Letztendlich brachten ihm aber seine Tricks samt einem Eins-A-Mord an einem harmlosen Wagenlenker nur einen bösen Fluch für die ganze Nachkommenschaft ein. Dumm gelaufen. Trotzdem: Pelops wurde in der Antike sehr geehrt und darum ständig auf Vasen gepinselt. Diese Griechen!
Hundert Geschichten bietet der Peloponnes. Über Olympia mit seinem sensationellen Ausgrabungsfeld und seinen mehr oder weniger heroenhaften Athleten; über Pylos, der mykenischen Stadt des Nestor; über Sparta, der Stadt des Leonidas, die uns bis heute fasziniert; über Tiryns, der mykenischen Burg am Argolischen Golf mit ihrer raffinierten Verteidigungsanlage. Und über Mykene selbst. In arkadischer Landschaft, auf einer Anhöhe nördlich von Argos.
Agamemnon brach von dort nach Troja auf, wollte für seine Mission sogar seine Tochter Iphigenie opfern. Die Ehefrau war stinksauer, rächte sich nach seiner Rückkehr fürchterlich, betrog und tötete ihn - beim Baden! Seitdem sollen Männer ja mehr das Duschen lieben . . .
Aber das ist wieder eine andere Geschichte.