Von Uwe Niemeier
Eigentlich fing alles ganz harmlos an. Es passierte an einem dieser verzauberten Frühsommertage an der Côte d’Azur, an denen man den Daheimgebliebenen am Telefon oder auf einer Postkarte (ja, damals schrieb man noch Postkarten*1) nicht vermitteln kann, warum die Sinne sich gerade für selbstständig erklären und auf Reisen gehen.
Die Luft ist dann mild und weich und die Stimmen der Passanten und Händler in der Altstadt von Antibes klingen ein bisschen klarer als in der aufgestauten Hitze des Hochsommers. Wir suchten an diesem Vormittag ein stilles Plätzchen, ließen uns in einem der Bistros vis-à-vis der Markthallen am Cours Masséna nieder und betrachteten entspannt das zu dieser Jahreszeit noch überschaubare Treiben auf dem provenzalischen Markt.
Dann drängte sich - wie aus dem Nichts auftauchend - ein älterer Herr mit gräulichem Haarkranz in unser Sichtfeld. Er schlenderte direkt an unseren Augen vorbei, ein blau-weißes Ringelshirt am Leib, ein krustiges Baguette unter dem Arm, die Zigarettenkippe zwischen den Lippen, und warf auf der Straße plaudernden Anwohnern und Ladenbetreibern freundliche Worte zu, mal nach links, mal nach rechts, ein "Ça va?" hier, ein "a tout à l'heure?" dort. Sicher, etwas klischeehaft, vielleicht. Aber genauso war es eben. Dann, plötzlich, im Vorbeigehen, erblickte er uns (*2) und richtete ausgerechnet an uns Müßiggänger ein aufmunterndes "Vous venez?" - und eilte in seinen dunkelblauen Espadrilles lautlos fort, gleich um die Ecke in die kleine Rue Christian Chessel. Wir waren neugierig geworden, folgtem dem Grauen in seiner halb zerrissenen Jeans und stiegen in der Rue du Bateau die Treppen empor zu einem zinnenbekränzten Chateau. Dorthinein war er verschwunden.
Der Graue war extra für uns ein wenig seiner Zeit entsprungen. 1946 hatte sich der Künstler in das Städtchen verliebt. Hier wollte er bleiben, hier wollte er arbeiten. Er blieb Monate und schuf in den oberen Räumen der Burg einige seiner Meisterwerke. Die Wände waren feucht und kühl, der Mistral pfiff durch Ritzen und Fensterläden. Das Bett war eine schmale Matratze. Aber was für ein Schaffensrausch hatte den gebürtigen Spanier hier ergriffen!
Picasso haben wir natürlich nicht wirklich gesehen. Aber beinahe. Genauso so hätte es schließlich passieren können, und wenn ich länger drüber nachdenke . . . Das Museum jedenfalls hatte uns in den Bann der Kunst gezogen. Wir bewunderten Picassos kubische Arbeiten, seine dekomponierten Frauenkörper, wir verliebten uns in seine Keramiken, begeisterten uns für seine Blaue Phase, seine Teller, . . . Kunst lebte plötzlich. Ein Feuer war gelegt. Vielleicht noch ein Flämmchen, zu Anfang. Aber irgendwie muss ja alles mal beginnen. Damals in Antibes.
Wie gesagt: Eigentlich fing alles ganz harmlos an.
*1 P.S. Ach ja, ich schreibe übrigens noch immer Postkarten von meinen Reisen.
*2 P.S. "Ich suche nicht, ich finde." v. P. Picasso