Von Kyklopen und Touristen

Von Uwe Niemeier

Reiseimpressionen aus Mykene

Nein, natürlich nicht. Ich habe niemals geglaubt, dass die Kyklopenmauern von Mykene auch wirklich von Kyklopen . . . nein, wirklich nicht. Und überhaupt, wer oder was sind eigentlich diese Kyklopen? Und, um dem Murren gleich vorzubeugen: gerne auch mit Z wie Zyklopen.

 

Diese Gestalten der griechischen Mythologie begegnen uns in der Regel einäugig und in irgendwelchen düsteren Höhlen auf abgelegenen Inseln. Sie stehen für mich nicht auf der guten Seite des Geschichtspersonals, und schon Odysseus hatte so seine Mühe mit einem besonders hartnäckigen Gesellen, der sich Polyphem nannte und ein Sohn des Poseidon war. Womit wir einen Schritt weiter wären: Kyklopen sind also Söhne von Göttern und daher mit immenser Kraft und Größe ausgestattet. Aber häufig nicht freundlich. Wie Polyphem.

 

Und jetzt stehe ich also vor einem herausragenden Werk dieser Riesen. Denn nur Riesen können ja diese gewaltigen Quadersteine zur Befestigungsmauer von Mykene aufgetürmt haben. Keine Frage.

Jedenfalls dachten so die alten Griechen, die ihren Vorfahren diese Bauwerke nicht zutrauten und sich die Ruinen anders erklären mussten.

 

Jetzt stehe ich also vor diesen Ruinen. Und ich bin ergriffen von ihrer Größe, beeindruckt von der Leistungsfähigkeit der Mykener, und beginne zu verstehen, warum Homer, Herodot und Pausanias uns davon berichten. Oben, auf dem höchsten Punkt des Burgberges, haben die Könige der Mykener gesessen. 

 

Wie haben sie sich wohl selber genannt? Tatsächlich Mykener? Wohl kaum. Der Name ist erst mit den Ausgrabungen und Entdeckungen im 19. Jahrhundert eingeführt worden. Die Hethiter, Zeitgenossen der Mykener, nannten das Reich in ihren Keilschriften Achijawa. Ein Gebiet irgendwo westlich ihres Großreiches. 

 

Achijawa? War dies das Land der viel besungenen Achäer? Diesen Begriff benutzte Homer jedenfalls in der Ilias als einen von drei Namen für seine ruhmreichen Vorfahren.

Es wird Zeit, in die Stadt hineinzugehen. Durch das Löwentor hindurch. Die Monolithe, die Steinplastik mit den Löwen. Beeindruckend, einmalig und . . . doch irgendwie überkommt mich kein Gefühl für etwas Erhabenes. Vielleicht sind mir am heutigen Vormittag die rund 150 Touristen aus drei Reisebussen (okay, da geht noch was) zu viel Rummel. Am berühmten Gräberrund A rechts des Weges kommen sich die Reiseführer gegenseitig ins Gehege. Erklärungen in verschiedene Sprachen crashen aufeinander. Englisch, Deutsch, Koreanisch, Russisch, Spanisch, . . . habe ich eine vergessen? Nein, Griechisch war nicht dabei. 

 

Ich entschließe mich zur Flucht. Und schreite die lange und stetig ansteigende Rampe nach oben zum Megaron empor. Eine gute Entscheidung, auch wenn vielleicht der eine oder andere Mauerrest am Wegesrand nicht ganz so beachtet wird. Endlich. Oben. Doch mich erwartet nur ein kümmerlicher Rest eines Megarons. Ich hatte wirklich kein Disneyland erhofft. Aber vielleicht etwas mehr, nur etwas.

 

Ich strenge meine Phantasie an. Hier also schlug das Herz des Palastes. Ein großer Hof mit Blick auf die argolische Ebene öffnete sich dem Besucher. Durch einen überdachte Vorhalle mit Säulen trat man durch einen Zwischenraum (Vestibül)  in eine reich mit Frescen ausgemalte Halle mit einem zentralen Feuerplatz. Der Königssitz. Ein Ort für Freude und Leid, Tod und Trauer, für Tränen und fürs Lachen. Hier wurden Feste gefeiert,  Delegationen empfangen, Verträge ausgehandelt, Pläne geschmiedet - und doch ging Mykene unter. 

 

Ich suche die Ruhe. Und komme nach kurzem Fußmarsch über die Hügelküppe in den tiefer liegenden Ostteil des Palastbezirks. Dort, wo die Mauern bis zu sieben Meter dick sind. Sieben! Welche Feinde fürchteten die Mykener? 

 

Niemand ist mir gefolgt. Es ist still. Ich blicke hinüber ins grüne Hügelland. Und sehe einen Hirten, der im Schatten einer Baumkrone ruht und seine Ziegen friedlich grasen lässt. So wie früher. Wie es schon immer war. Das berührt mich. Und in diesem Moment erst öffnen sich die Augen für ein Mykene hinter den Mauern. Ich muss wiederkommen.