(*Die Handlung der Geschichte sowie die Personen und ihre Namen sind frei erfunden.)
Eine Kurzgeschichte von Uwe Niemeier, Teil 2
Nikaos ritt durchs Löwentor hindurch, ohne der diesmal sehr konzentriert schauenden Wache einen Blick zu widmen. Still grüßte er nach rechts, wo seine Ahnen in einer prunkvoll eingefassten Grabkammer bestattet waren. Sein Pferd trabte die Rampe zur Wegekreuzung hoch, wo noch immer der Stallbursche wartete und sich auf einem offenen Steinofen kleine Fleischstücke auf Holzspießen grillte. Nach rechts führte ein Fußweg in das am Hang terrassierte Viertel der Ritter hinunter. Dort befand sich auch der Zugang zum Tempel, der in einem Steinhaus nahe der Grabkammer untergebracht war.
Der Königssohn näherte sich dem Kultraum und hörte hinter einem Vorhang die vertraute Stimme seiner Mutter. Er lupfte den Stoff vorsichtig einen Spalt zur Seite, denn es war nicht erlaubt, die heilige Zeremonie zu stören. Dann sah er sie, neben seiner Mutter stehen – Arexadara.
Wie hübsch sie war! Helle Haut, mandelförmige Augen mit schwarzen Lidstrichen und eine schlanke, aber nicht zu dünne Nase wie die Frauen in Messenien. Auf den schmalen Lippen leuchtete ein dezentes Rot, das zur Farbe ihres Überwurfs auf den Schultern passte. Die schwarzen, mit Perlen durchwobenen Haare waren nach hinten zu einem Doppelzopf geflochten, wobei ein paar dicke Locken frech unter einem Band hindurch in die Stirn fielen. Ein dünnes Ganzkörpergewand über dem Faltenrock und eine enge, körperbetone Chiton-Weste mit Ärmeln bis zum Ellbogen zeichneten sie als edle Aristokratin mit würdevollen Zügen aus. Nikaos kannte die Tuschelei im Palastbezirk, wonach Arexadaras Ahnen aus Konoso auf Kreta stammen würden – und somit einst besiegte Minoer waren. Doch das störte ihn nicht. Er war verliebt bis über beide Ohren.
„Arexadara, die Beschützerin. Wie schön das klingt.“ Nikaos flüsterte ihren Namen. Sein Herz pochte heftig bei der Vorstellung, mit ihr als seine Gemahlin eines Tages vor die Ahnen treten zu können. Die Tochter des Moroqua, eines hohen Militärführers der Mykener und Gefolgsmanns des Wanax, war seiner Mutter seit zwei Jahren bei den Anbetungen und Opferritualen zur Hand gegangen und ihm schon früh wegen ihrer Anmut aufgefallen.
Nikaos sah seine Mutter in der Mitte des Raumes stehen. Sie trug einen kostbaren Rock aus Bastreifen, einen rotschimmernden Chiton und hatte sich ihr Gesicht weiß gekalkt. Auf ihrem Kopf saß eine Krone mit Verstrebungen aus glänzender Bronze, zwischen die weiße Stoffdreiecke geknüpft waren. Im Scheitel der Krone kreuzten sich goldene Blätter. Sie und die beiden Priesterinnen neben ihr hatten kleine Gebinde von Getreide in den Händen und beschworen damit eine mittelgroße Figur aus Ton, die auf einem Mauervorsprung der Wand stand und von zwei kleinen Kultfiguren eingerahmt war. Davor lag eine tönerne Schlange auf dem Fußboden, die den Inhalt großer und kleiner Schalen aus Terrakotta bewachte.
Er beobachtete, wie die Priesterinnen ihre in der Mitte gebundenen Chitons auseinanderschoben, die Hände zum Gebet hochstreckten und der Gottheit ihre entblößten Brüste zeigten. Und er hörte, wie seine Mutter Gebetsformeln sprach. Der schwere ölige Geruch von gesalbter Haut vermischte sich in dem kleinen Raum mit dem Körperduft der Frauen und zog nach draußen, direkt in die Nase des jungen Mannes. „Arexadara!“ Wieder flüsterte er. Dieser Name ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Und er wusste mit seinen sechzehn Jahren längst, dass es für Männer außer der Jagd, dem Krieg und den Festen noch andere Vergnügungen gab.
Plötzlich griff ihn von hinten eine kräftige Hand am Oberarm und zerrte ihn vom Vorhang weg. „Nikaos, was machst du da? Der Wanax sucht dich!“ Sein Arm schmerzte.
Der Königssohn drehte sich um und blickte überrascht dem Lawagetas ins Gesicht. Gleichzeitig versuchte er, sich aus diesem Schraubstock an seinem Arm zu befreien.
„Was . . . ?“ Nikaos war verärgert. Doch der Heerführer der Mykener lockerte seinen Griff nicht.
„Junge, pass auf! Dein Vater hat gerufen. Du sollst dabei sein, wenn die Delegation aus Theben ihren Bericht vorträgt. Wir haben dich gesucht. Gefunden haben wir nur dein Pferd! Der Stallbursche hat mir dann verraten, wo du dich rumdrückst.“
Nikaos errötete leicht. Dann löste er den jetzt schwächer werdenden Griff des Lawagetas an seinem Oberarm. „Jaja, ich komme schon“, sagte er gereizt und blickt über die Schulter zurück in den Kultraum.
„Ah, die junge Arexadara hat es dir wohl angetan.“ Der Lawagetas schaute nun ebenfalls am Vorhang vorbei. Sein mildes Lächeln bekam plötzlich zynische Züge um den Mund. „Ja, sie ist sehr schön. Aber mach´ dir keine Hoffnung. Das Mädchen ist vergeben.“
Nikaos starrte seinen Waffenlehrer mit einer Mischung aus Ärger und Ungläubigkeit an. Er überlegte kurz. „Wie kann der Lawagetas es wagen? Wenn nicht . . .“
Schon fiel der Lawagetas ihm ins Wort. „Arexadara gehört mir. Ich habe es mit dem Moroqua, meinem Waffenbruder, schon ausgehandelt. Du wirst ein anderes Mädchen finden.“
„Nein, ich habe doch schon ein Pfand von ihr!“ Nikaos widersprach energisch. Er zog unter seinem Gewand einen kleinen Beutel aus Ziegenleder hervor, griff mit spitzen Fingern hinein und holte eine kleine gestreifte Stierfigur heraus. „Unser Zeichen! Die Kraft unserer gemeinsamen Ahnen. Sie schenkte es mir neulich, nach dem heiligen Ritual.“
„Vergiss es!“ Der Lawagetas reagierte energisch und griff sich mit einer raschen Handbewegung die kleine Tonfigur, mit der Nikaos vor seiner Nase wedelte. „Vergiss es“, sagte er erneut, jetzt mit einem respektlosen Unterton wie zu einem Diener. Dann warf er den Stier auf den harten Boden, stampfte mit seiner Sandale auf der Figur herum und drehte sein Bein im Halbkreis. „Das ist Kinderkram!“ Unüberhörbar knirschte der Ton unter seiner Sandale.
Nikaos und die kleine Tonfigur waren am Boden zerstört. Er schwor Rache. Er schwor den Tod des Lawagetas – bei seinen Ahnen. Doch später. Jetzt nicht. Jetzt musste er ins Megaron.
Das Zentrum des Palastes war das Herz des befestigten Burgberges. Der Hof des Megarons auf dem höchsten Punkt ging über in einen von zwei Säulen gestützten offenen Vorraum, der im Sommer Schatten bot. Durch einen Zwischenraum hindurch, von dem Türen in verschiedene Nebenzimmer führten, betraten die Gäste schließlich den Thronsaal mit vier kräftigen Säulen, die um eine große Herdstelle in der Mitte des Raumes gruppiert waren, und dem Thron selbst an der rechten Wand. Nikaos hatte seinen Platz im Megaron neben seinem Vater eingenommen und kurz und missgünstig zum Lawagetas hinübergeschaut, der auf der anderen, langen Seite des Raumes zusammen mit den mykenischen Rittern wartete. Ihre Blicke trafen sich kurz.
Nikaos blickte schnell wieder zu seinem Vater. Er war stolz auf ihn. Der Wanax sah wahrlich wie ein großer Herrscher aus. Groß war er, stämmig, mit breiten Schultern, rundem Kopf und hoher Stirn. Seine wilde Mähne hatte er mit einer wohlriechenden Paste zu groben Locken geformt. Die Narben und Falten im Gesicht gaben ihm ein geradezu erhabenes Äußeres. Wie ein Löwe. Links und rechts an der Palastwand hinter dem Thron umrahmten ihn Fresken mit bunten und geflügelten Greifen und geschmeidigen Raubtieren. Die anderen Wände des Megarons waren bemalt mit Szenen aus dem Potnia-Kult und mit Darstellungen siegreicher Kämpfe gegen Barbarenvölker. Mykene war eine ruhmreiche Stadt, und dem Wanax gebührte wahrlich Respekt. Nikaos hatte keinen Zweifel, dass der mächtige Pharao hinter dem großen Meer seine Zusage gegeben hatte, den Bedrängten zu Hilfe zu kommen. Es war nur eine Frage der Zeit. Es wurde still im Megaron, als der Koreter seinen Bericht begann.
Was der Königssohn hörte, entsprach so gar nicht seinem Weltbild. Die Mykener, so ließ der Pharao durch die Delegation wissen, hätten nicht mal einen richtigen Staat und keinen Großkönig an der Spitze, sondern nur lokale Kriegsfürsten und seien überhaupt doch selber kulturlose Strandpiraten, die andere Städte und Dörfer am großen Meer überfielen, um zu rauben, was andere hart erarbeiteten. Nein, führte der Koreter mit dünner Stimme weiter aus, Hilfstruppen wolle der Pharao nicht schicken. Nur mit anderen Großkönigen, wie aus dem Reich der Hethiter, würde ein Pharao auf Augenhöhe verhandeln.
Der Koreter und die Gesandten schauten bei ihrem Bericht in Todesangst zu Boden. Die Stille im Megaron war mit Spannung geladen. Gleich würde der Wanax sein scharfes Bronzeschwert ziehen, befürchteten sie, und mit einem tödlichen Streich seinen Ärger über diese anmaßenden Worte spüren lassen. Sie hatten versagt.
Nikaos spürte die Gefahr und griff instinktiv zum Schaft seines Dolches. Jetzt hörte er ein unzufriedenes Murren in der Ritterschaft und beobachtete gleichzeitig, wie sein Vater versteinert auf dem Thron saß. Der König sagte – nichts. Er reagierte einfach nicht. Blieb stumm.
Jetzt hob der Lawagetas seine Stimme und sprach erst in Richtung des Wanax, dann zu den Reihen der mykenischen Elite. „Großer Wanax, ihr ehrenvollen Ritter, wir Mykener haben die Götter auf unserer Seite. Wer braucht schon den Pharao?“ Jetzt rief er geradezu: „Wir sind keine Feiglinge. Unsere Waffen werden gelenkt von unseren ruhmreichen Ahnen. Mögen auch die Paläste in Pylos und Iklaina in Messenien fallen. Niemals aber sind unsere Mauern gestürmt worden. Wen fürchten wir also?“ Mit erhobenen Fäusten stimmten die Ritter der kurzen Rede zu.
Der Wanax schaute auf. Sein oberster Heerführer wollte ihm offensichtlich Mut machen. Auf seine Stimme würde der König hören müssen. „Was schlägst du also vor?“
„Wir werden unsere Mauern verstärken, die Gräben tiefer ausheben. Wir werden neue Waffen schmieden und unseren Kriegern den harten Kampf lehren. Und wir werden Hilfe aus den Nachbarregionen holen. Lass mich ziehen, damit ich mich mit den anderen Königen der Achijawa besprechen kann.“
„Die meisten unserer Nachbarn sind unsere Feinde. Und für neue Waffen brauchen wir mehr Rohstoffe. Hast du das schon vergessen, Lawagetas?“ Der König schaute fragend zu ihm hinüber.
„Das lass´ nur meine Sorge sein. Haben wir die Wahl?“ Der Heerführer drängte. Wieder hoben die Ritter ihre Fäuste.
„Dann geh! Aber ohne Aufschub. Wir wissen nicht, wie lange unsere Götter uns noch Schutz geben.“ Des Königs Wille war ausgesprochen und Befehl.
Nikaos hatte sich nach der anfänglichen Verzweiflung über die ungehörige Absage des Pharaos schnell wieder gefangen. Der Lawagetas hatte Recht, sagte er sich im Stillen. „Bei unseren Ahnen, die mykenischen Mauern hat noch niemand überwunden. Ich werde dafür kämpfen, dass es so bleibt, und jeden Feind töten, der es auch nur wagt. Ruhm und Ehre werde ich ernten. Bei allen Göttern!“ Dann kam ihm der nächste Gedanke: "Der Lawagetas soll nur gehen. Dann habe ich Zeit, die Dinge mit Arexadara zu regeln. Potnia steh´ mir bei!“