„Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun.“

(Willy Brandt in seiner Regierungserklärung im Oktober 1969)

 

Obere und untere Reihe v.l.: Dr. Wilhelm Lorenz, Uwe Niemeier und Peter Schubmann. Heute und damals. Fotos und Copyright: Lorenz/Niemeier/Schubmann


Sind wir nicht alle ein bisschen Skorpion?

 

Von Peter Schubmann und Uwe Niemeier

 

1969 – was für ein bewegendes Jahr! Arafat wird neuer PLO-Chef. US-Soldaten richten in My Lai ein Massaker unter Vietnamesen an. Russen und Chinesen schießen am Grenzfluss Ussuri aufeinander. Im April tritt Frankreichs Dauerpräsident Charles de Gaulle zurück. Neil Armstrong hüpft im Juli auf dem Mond herum. Und im Oktober, als Stadthagen täglich von einem graunassen Herbstdesaster ins nächste fällt, geschieht am 28. des Monats etwas Unglaubliches in Nachkriegsdeutschland. Da flimmert abends dieser neue Bundeskanzler Willy Brandt durch die Tagesschau und spricht von Reformen, einer Öffnung der Gesellschaft und „von mehr Demokratie wagen“.

 

Drei frisch pubertierende Jungen sitzen in Stadthagen wie Millionen andere Menschen in Deutschland gebannt vor dem Fernseher und trauen ihren Ohren nicht. Mehr Demokratie? Unglaublich! Das hat es ja noch nie gegeben!

Die Saat aber ist gelegt. Und die drei Jungs lernen schnell, wie sie sich in einer Demokratie Gehör verschaffen. Es dauert nur drei Jahre, bis sich Wilhelm Lorenz, Peter Schubmann und Uwe Niemeier aus dem Tulpenweg, der Niedernstraße und der Bahnhofstraße zusammenraufen. Neuntklässler allesamt, aus einem Klassenverband am Ratsgymnasium. Dann heben sie eine neue Schülerzeitung aus der Taufe, den Skorpion – und schon bald gibt es richtig Ärger.

 

Frühjahr 1974: Ja, die Lehrer waren richtig sauer auf uns. Einige jedenfalls. Das war zu erwarten. Wir hatten den Spieß umgedreht und sie selber einem Test unterzogen. Der Test lautete: „Wie gerecht sind die Noten unter Deutschaufsätzen?“

 

Es war uns schon lange ein Rätsel, nach welchen Kriterien Deutschaufsätze beurteilt wurden. Rechtschreibung, Zeichensetzung, Grammatik – okay, dafür gab es klare Regeln. Aber schon bei Ausdrucksfehlern fing es an. Und wie beurteilten die Lehrer erst Sinn und Form, also Idee und Inhalt, Aufbau und Struktur? Das war uns schleierhaft. Wir mutmaßten: Es hing vom Lehrer ab, von Sympathie oder Antipathie gegenüber den Schülern. Waltete da nicht die totale Willkür?

 

Um diesem Verdacht nachzugehen, besorgten wir eine Deutscharbeit, die im Unterricht einer zehnten Klasse tatsächlich schon einmal geschrieben worden war, tilgten die reale Beurteilung und legten sie den Deutschlehrern am Ratsgymnasium neu zur Benotung vor. Eine Handvoll machte tatsächlich mit. Respekt. Das Ergebnis war eine dicke Überraschung, veröffentlicht im Skorpion 5.

 

Skorpion hieß die Schülerzeitung, weil sie stechen sollte. Und unser Deutschlehrer Günter Heise gehörte zu den Geburtshelfern. Er brachte uns auf die Idee, eine Schülerzeitung zu gründen. Er entzündete in uns das Feuer für das Projekt, gab uns den Rückhalt und das Selbstbewusstsein, es durchzuziehen. Er setzte dem Projekt den Stachel auf.

  

Eine Art Nachrichtenfieber hatte uns ergriffen. Wir verschlangen die Informationen in den Medien, diskutierten über Politik. Nach Schulschluss führten wir in den Cafès am Markt teils hitzige Gespräche über Lehrer, Mitschüler oder den aktuellen Unterricht. Dieses Nachrichtenfieber führte zwei der drei Skorpion-Herausgeber direkt in den Journalismus. Peter Schubmann ist heute politischer Korrespondent in der Hauptstadt für das RTL-Nachtjournal. Uwe Niemeier hat erst vor kurzem nach vielen Jahren in der Chefredaktion des Darmstädter Echo den Stuhl des Chefs vom Dienst gegen die Holzbank eines Seniorstudenten an der Mainzer Johannes-Gutenberg-Universität getauscht. Statt redaktionelle Strategien und Qualitätsmaßstäbe an einer Tageszeitung beschäftigen ihn jetzt die Klassische Archäologie und Bildkunst und Malerei. Wilhelm Lorenz, der Dritte im Bunde, ist nach seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften in Hannover gleich an der Uni geblieben. Er ist heute Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Harz in Wernigerode, wo er insbesondere im Fach Mikroökonomie seinen Studenten die Lehren von Adam Smith und anderen Wirtschaftsgurus näherbringt. Doch zurück in die siebziger Jahre.

 

Günter Heise hatte unsere Klasse 1971 von Alice Geiß, geb. Deutschmann, übernommen. Die alte Damen mit Staatsexamen von 1935 nannten wir Omi Geiß, weil sie nicht mehr lange bis zur Pensionierung hatte - und ihre Haare so schon weiß strahlten. Wir hatten es mit etlichen Lehrern alter Bauart zu tun. Mit Heise aber wehte ein frischer Wind. Er sah unsere Wandzeitung am Schwarzen Brett der Klasse hängen und fragte, warum wir nicht eine Zeitung für die ganze Schule machen würden. Damals lag die gesamte Schülermitverantwortung am Boden. Es gab weder eine SMV noch eine Schülerzeitung. Nach den Aufbruchjahren der 68er drohte die Idee innerschulischer Mitbestimmung in einen Dämmerzustand zu fallen. Der alte Direktor Heinrich Stracke erläuterte die Grundlagen der Nuklearphysik noch immer am Verhältnis zwischen Mann und Frau: „Sie ziehen sich an, und sie stoßen sich ab!“

 

Seinem Interims Nachfolger Kurt Steinicke konnten wir nach Gründung des Skorpion 1972 einen kleinen Nebenraum der Aula abhandeln, Teil der heutigen Kantine. Das wurde der Skorpionraum. Hier rauchten in den Pausen und Freistunden die Köpfe. Und viele Zigaretten. Das wurde geduldet, auch wenn der Qualm manchmal so dick war, dass er über das geöffnete Oberlicht in den Innenhof des Lehrertraktes zog. Es war übrigens der einzige Platz in der Schule, wo Schüler rauchten durften. Und unsere Redaktionsstube bekam zwangsläufig regen Zulauf . . .  Wir fühlten uns großartig.

 

Als Werner Röver (Ich bin euer neuer Direx“ )aus Emden kam, hatten wir Sorge, schärfer beobachtet zu werden. Der Sozialdemokrat, so hatten wir bei unseren Recherchen erfahren, galt als strenger Mann. Aber da es uns schon gab, bevor er kam, ließ er uns machen. Er ließ uns unsere Zeitschrift und unseren Raum, selbst wenn unsere Artikel zuweilen für Kopfschütteln im Lehrerzimmer sorgten.

 

Legendär wurde die Reihe „Der Lehrerberuf in der Diskussion“. In der Teilfolge „Der Lehrerberuf als Verlegenheitsjob“ ging es um Studienräte, die besser an der Uni aufgehoben wären als an einem Gymnasium. Wir behaupteten, dass sie uns nichts beibringen könnten, weil sie keine Ahnung von Pädagogik hätten. Wir hatten natürlich konkrete Personen im Auge. Namen nannten wir aber nicht. Später nahmen wir Lehrer aufs Korn, die sich gegen neue Entwicklungen stemmen würden wie das Kurssystem oder integrierte Gesamtschulen.

 

Dass wir in unserem Artikel das Wort „stemmen“ falsch schrieben, nämlich „stäm­men“, so als stammte das Stemmen vom Baumstamm ab, nahm Deutsch-Lehrer Erich Raabe dankbar zum Anlass, unsere Thesen links liegen zu lassen und uns in seiner schriftlichen Stellungnahme schlicht für doof zu erklären. Wir haben´s überlebt.

 

Schüler machen Fehler, sonst wären Lehrer arbeitslos. Der Skorpion war eben eine Zeitung von Schülern für Schüler und keine Schulzeitung. Kein Text im Skorpion wurde je zensiert oder auch nur redigiert. Organisation und redaktionelle Verantwortung, Finanzierung und Anzeigenakquise, Druck und Verkauf – alles blieb in unserer Hand. Der Einfluss der Schulleitung bestand einzig und allein darin, dass sie Sorge dafür tragen musste, dass wir keine Gesetze brachen oder etwa zur Revolution aufriefen. Vielleicht hätten wir´s mal tun sollen, spaßeshalber.

 

Für den Druck schickten wir unsere Vorlagen ins bayerische Kulmbach zu einem Verlag, der sich auf Schülerzeitungspresse spezialisiert hatte. Die Zeit, die wir auf die Kartons mit den fertigen Exemplaren warten mussten, erschien uns unendlich lang.

 

Auf Skorpion 3 warteten wir noch dringender als sonst. Es war kurz vor den Sommerferien 1973. Doch er kam und kam und kam nicht. Dann gingen wir der Sache nach. In Kulmbach abgeschickt, aber in Stadthagen nicht angekommen? Schließlich fanden wir heraus, dass die Kartons seit Tagen am Bahnhof Stadthagen auf Abholung warteten. Niemand hatte uns informiert. Wir mussten den Erscheinungstermin auf den Herbst verschieben. Und waren stinksauer.

 

Zurück auf Start. Den ersten Skorpion verteilten wir am 17. Oktober 1972 in allen Klassenräumen. Mit der Schulleitung war abgesprochen, dass die Lehrer dafür sogar ihren Unterricht unterbrachen. Das war natürlich ein Riesenhallo, besonders in den unteren Klassen. Wir wurden geradezu gefeiert. Ein tolles Erlebnis. Fünfzig Pfennig kostete das Heft. Die vorsichtig kalkulierte Auflage von 300 Stück war im Nu weg.

 

Der Skorpion wurde nach und nach zum Begriff, auch durch Aktionen und Veranstaltungen. Wir verteilten Hefte, in denen Schüler anonym ihre Fragen an den Direktor hineinschreiben konnten. Diese Fragen stellten wir ihm und veröffentlichten seine Antworten im nächsten Heft. Wir organisierten ein zweitägiges Wettkegeln und ein Preisausschreiben um das neu eröffnete Hallenbad, luden zu einer Podiumsdiskussion über aktuelle schulische Themen ein und sorgten dafür, dass in der großen Pause endlich Milch und Kakao verkauft wurden, obwohl der Hausmeister zeterte, denn er musste die leeren Becher auch noch zusammenfegen.

 

Skorpion 5 vom Juni 1974 war das dickste Heft, fast siebzig Seiten, vollgestopft mit gut lesbaren, spannenden Artikeln aus unserer Schulwirklichkeit. Bis heute lässt sich darin auf einer Liste nachlesen, welche Berufe die Abiturienten damals ergreifen wollten.

 

Skorpion 6, das letzte Heft im Oktober 1975, war nur noch ein müder Abklatsch der bisherigen Nummern mit Rätseln und Drudeln und anderem Unsinn, vieles abgepinnt aus Zeitungen und Zeitschriften. Die Auflage war jetzt zwar doppelt so hoch wie am Anfang. Aber mit dem Skorpion war es aus, deutlich zu merken. Das näher rückende Abitur kostete eben doch viel Kraft. 

 

Mit dem Jahr 1975 begann ohnehin eine anstrengende Zeit, geradezu bleiern: Die „Rote Armee Fraktion“ entführte den Politiker Peter Lorenz und überfiel die Botschaft in Stockholm. In Stuttgart begann der Prozess gegen Ulrike Meinhof und Andreas Baader. Europa schwächelte, und Deutschland plagte sich mit Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise herum.

 

Mitte der Siebziger ging der Trend auch irgendwie zurück ins Private. Folgerichtig kreierten wir für den Skorpion eine Serie mit dem Namen „Lehrer privat“. Das war eine Reihe mit Lehrern, die uns zum Interview in ihre Wohnung einluden. Manchmal auch in eine Kneipe. Wir rückten an mit zwei Redakteuren, manchmal mit dreien. Einer hatte immer einen Fotoapparat dabei. Vom Geburtstag und Geburtsort bis hin zu Gewicht, Größe und Schuhgröße fragten wir alles ab:

 

Warum sind Sie überhaupt Lehrer geworden?

Was wollen Sie verbessern an der Schule?

Was halten Sie vom politischen Engagement von Schülern und Lehrern?

Wollen Sie Direktor werden?

Und was machen Sie eigentlich an den vielen freien Nachmittagen?

 

Wir stellten etliche Fragen, die mit Politik zu tun hatten. Manche Fragen waren voller Vorurteile. Aber die Art, wie die Lehrer antworteten, machte sie sympathisch – oder eben nicht. Zeigten sie sich offen oder ausweichend? Erzählten sie oder mauerten sie?

 

Einige waren frei genug, erstaunliche private Sachen rauszulassen. Wir erfuhren, dass manch einer selten vor Mitternacht ins Bett fand. Einer sprach offen über seine Selbstzweifel. Diese menschliche Größe brachte uns zum Nachdenken.

 

Einige „Lehrer privat“-Kandidaten sind bis weit in die Gegenwart hinein prägende Figuren des Ratsgymnasiums geblieben, darunter Rolf Aust, Günter Heitmeyer und Gerhard Klugmann. Sie haben sich eingesetzt für eine lebendige Schule, eine, die übers Lernen und Notengeben weit hinausgeht. Und sie haben sich nicht gescheut, ein paar freche Schüler hinter die Kulissen blicken zu lassen. Nämlich uns. Danke übrigens!

  

Eine Frage aber muss noch geklärt werden: Wie gerecht sind denn nun die Noten unter Deutschaufsätzen?

In unserem Test gaben die fünf beteiligten Lehrer Noten von befriedigend (3) bis knapp ausreichend (4-). Ein Lehrer fand drei, ein anderer elf Fehler. Erstaunlich genug.

 

Die Pointe des Versuchsaufbaus bestand aber darin, dass der Lehrer, der die Aufgabe einst im realen Unterricht gestellt hatte, die echte Arbeit noch mit gut (2) benotet hatte. Im Skorpiontest gab er dann knapp befriedigend (3-). Um was ging es also? Um die Tagesform des Lehrers? Oder um die Sachlichkeit einer Bewertung? Wir lernten: Schulische Gerechtigkeit fällt nicht vom Himmel.

 

Auf dem Schulhof war unser Test im Skorpion 5 das Gesprächsthema Nummer eins. Und im Lehrerzimmer? Wir wissen es nicht. Aber wir hörten hinter vorgehaltener Hand, dass das Getuschel dort über die Kollegen, die sich freiwillig an so einem Test beteiligen, groß gewesen war. Vielleicht gab es sogar Gelächter? Das wäre schade.

Denn wie hieß es doch vor 50 Jahren bei Willy Brandt: „Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun.“

 

Das Wort von damals haben wohl nicht nur drei junge Pennäler verstanden. Sind wir daher nicht alle ein bisschen Skorpion?

 

(Der Text ist erschienen im Jahrbuch 2018 des Ratsgymnasiums Stadthagen.)

 

 

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